27.10.2023, 16 Uhr
Konrad-Wolf-Preis 2023 an Julian Assange
Laudatio von Thomas Heise zur Preisverleihung
Anlässlich der Verleihung des Konrad-Wolf-Preises 2023 an Julian Assange am 22. Oktober 2023 hielt Thomas Heise, Direktor der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste, die Laudatio. Stella Assange, Anwältin und Ehefrau von Julian Assange, nahm den Preis entgegen.
„Sehr geehrte Stella Assange, liebe Gäste,
„Die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.“ Das findet man in Band 2 von Heiner Müllers Gesammelten Irrtümern. Da ist was dran und es ist nicht nur lustig.
Konrad Wolf, Jude, Künstler, Kommunist, nach dem der Preis benannt ist, der heute an Julian Assange verliehen wird, war von 1965, keine 40 Jahre alt, bis zu seinem Tod 1982 ein klug handelnder Präsident der Akademie der Künste der DDR.
Einer der wichtigsten Spielfilmregisseure Deutschlands.
Eine Instanz. Auch eine Instanz unter Beobachtung. Auf einem Schleudersitz. Und „zerrissen zwischen Vaterland Deutschland und Heimatland Sowjetunion“, wie Jutta Voigt über ihn schrieb, ein Mensch, „… in andauernder Spannung, zwischen privater Erfahrung und öffentlicher Rede, zwischen Politik und Kunst, Gefühl und Disziplin.“
Der Traum bleibt.
Erinnern will ich an seinen stark autobiografisch beeinflussten Film „Ich war 19“.
Ein Film, der zurückblickt auf die Zeit des Weltkriegs:
„Die Schwierigkeit und das Bemühen des Protagonisten, die Szenerie des Deutschlands von 1945 zu verstehen, reflektiert sich in der Art, wie dieses oft bruchstückhafte und elliptische Material präsentiert wird; es ist geprägt von der lebendigen Erfahrung, noch nicht umgeben und abgetötet von der Kruste historischer Einordnung und ‚Bewältigung‘.“
So unser Mitglied, der Filmkritiker und Autor, Ulrich Gregor. Ein Film aus Eindrücken, Beobachtungen. Tagebucheinträge eines jungen Deutschen, Emigrant, jetzt Soldat der Roten Armee: Die Figur Gregor Hecker. Grundlage für die Rolle, den Film, sind Wolfs eigene Tagebuchaufzeichnungen.
„Ich war 19“ ist der zehnte Film, den Konrad Wolf mit dem Kameramann Werner Bergmann dreht.
Der Sohn eines Dorftischlers aus Ostsachsen, Jahrgang 21, dann gelernter Porträtfotograf, dann Kameramann der deutschen Wehrmacht für die Wochenschau an den Fronten im Westen, Südosten und schließlich Osten, wo ihm 1943 ein Granatsplitter seinen rechten Arm zerfetzt, dass der amputiert werden muss. Das rettet ihm das Leben und macht ihn zum Pazifisten. Und bringt ihn zurück nach Deutschland, nachhause, wo er nach dem Lazarett, angestellt beim „Heimatfilm“, den Krieg überlebt. Der erste Eintrag in sein Kriegstagebuch am 1. September 1939 hatte noch gelautet: „Endlich geht’s los.“ Da war er 18 Jahre alt.
Konrad Wolf, Jahrgang 25, ist ein mit seiner jüdischen Familie nach Hitlers Machtergreifung in die Sowjetunion emigriertes Kind, das nach der rettenden Flucht aus dem faschistischen Deutschland in der Sowjetunion als heranwachsender Deutscher „Terror und Traum“ erlebt, „Moskau 1937“, das Karl Schlögel in seinem gleichnamigen Buch ausführlich und eindringlich beschrieben hat. Da war Konrad Wolf zwölf Jahre alt.
Und er erfährt als Vierzehnjähriger den Beginn des deutschen Eroberungskrieges, der ein Weltkrieg werden wird, der im Juni 1941 mit drei Millionen deutschen Soldaten der Wehrmacht die Sowjetunion erreicht, Einsatzgruppen der SS folgen, ein rassistischer, barbarischer Vernichtungskrieg beginnt. Wir wissen alle, was dann geschah.
Ein Jahr später wird er nach der neunten Klasse als 17-jähriger in die sowjetische Rote Armee einberufen. Er spricht deutsch, er wird auf einem Lautsprecherwagen eingesetzt.
Er verliest an die Soldaten der Wehrmacht, den Feind, über die Front hinweg Nachrichten und Agitation, Aufforderungen, sich der Roten Armee zu ergeben, am Leben zu bleiben.
Er führt Tagebuch, was verboten ist, er notiert, was ihm geschieht, was er sieht, was ihm durch den Kopf geht.
Drei Kriegsjahre später, am 22. April 1945, erreicht er mit seiner Einheit deutschen Boden. Konrad Wolf ist 19 Jahre alt. Ein Mann geworden,
Das Tagebuch bricht ab, mitten in einem Satz.
„Es gilt, Gefühle tief in sich zu verbergen, um sie dann zur richtigen Zeit wieder aus der Versenkung zu holen“, hatte er als 18jähriger geschrieben.
Die Dreharbeiten zu „Ich war 19“ beginnen 1967. Der Kameramann Werner Bergmann bringt in die Arbeit seine eigenen Erlebnisse ein, seine Erfahrungen, einmal auch szenisch. Und der etwas jüngere Berliner Autor Wolfgang Kohlhase ist als Co-Autor dabei, Konrad Wolf die erzählerische Distanz zur eigenen Geschichte zu ermöglichen, um sie erzählen zu können.
Drei Männer ringen gemeinsam um die Erzählung einer ganz verschiedenen Erfahrung.
„Du bist doch Deutscher“, sagen die besiegten/befreiten Deutschen zu Gregor Hecker in der russischen Uniform. Gedreht vom einarmigen Bergmann.
Wir werden die letzte Szene dieses Films am Ende der Veranstaltung noch sehen.
Nicht nur der Krieg Russlands gegen die Ukraine zwingt uns neu nachzudenken. Nicht dieser Krieg allein.
Wir können uns dem auch nicht entziehen, selbst wenn wir wollten.
Nicht dem gegenwärtigen Terror der Hamas, nicht dem mörderischen Angriff auf Israel vor einer Woche, dem besinnungslosen Töten, den Entführungen.
Auch das jahrzehntelange Leiden der palästinensischen Bevölkerung in Gaza. Das Sterben im Jemen, der Terror in Myanmar und unsere Waffenlieferungen an Saudi Arabien, das den Journalisten Kashoggi hat schlachten und zerlegen lassen.
Wir werden vielleicht Glück gehabt haben, wenn der Nahe Osten nicht großflächig explodiert. Oder die Welt. Wir wissen es jetzt noch nicht. Wir müssen uns damit befassen, sonst wird es uns entgleiten.
Befassen mit dem, was wir nicht wissen, mit dem was wir nicht wissen wollen, und mit dem, was wir zwar wissen, worüber wir uns aber keine Gedanken machen wollen, manchmal auch nicht mehr können, weil wir es nicht aushalten. Und auch sollen. Jedenfalls dann, wenn Täter die unseren oder Verbündete sind.
Es sind Dokumente, die zeigen: Wann, wo, wer.
Wir haben das quälende WikiLeaks-Material an den Anfang des Abends gestellt, um sinnlich erfahrbar zu machen, worum es hier geht. Das braucht seine Zeit.
2006 hat Julian Assange, gemeinsam mit chinesischen Dissidenten, Hackern aus den USA und Europa, mit Informatikern aus Australien und Südafrika die journalistische Plattform WikiLeaks gegründet.
2010 stellt die Plattform dieses Video aus dem Jahr 2007 im Irak online.
Es zeigt, was die Bordkamera eines Apache Hubschraubers hoch über Bagdad sieht;
und was Sie dazu aus dem Off gehört haben, sind die Stimmen der US Soldaten an Bord und von der Leitstelle. Der Funkverkehr. Dessen zynische, manchmal heitere, nahezu spielerische Routine. Neben diesem verstörenden Bildmaterial veröffentlicht WikiLeaks 2010 knapp 400.000 weitere klassifizierte Dokumente des US-Militärs. Sie decken den Zeitraum von 2004 bis 2010 ab.
„Es ist die genaueste Beschreibung eines Krieges, die je veröffentlicht wurde. Die internen Berichte des US-Militärs zeigen, wo die Menschen getötet wurden, wann es passiert ist und wer daran beteiligt war“, sagt Julian Assange.
Das Material hatte der US-Soldat Bradley Manning, heute Chelsea Manning, an WikiLeaks gegeben. WikiLeaks hat es zusammengestellt und unter dem Titel Collateral Murder 2010 veröffentlicht. Kurz darauf wurde der 25jährige Manning verhaftet und 2013 zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, unehrenhaft aus der Armee entlassen.
Nach sieben Jahren, am Ende von Obamas Präsidentschaft im Januar 2017, wurde Chelsea Manning von ihm begnadigt.
Im Video Collateral Murder sehen wir, wie 10 wehrlose Menschen, darunter Saeed Chmagh und Namir Noor-Eldeen, zwei Journalisten, die für Reuters arbeiten, am 12. Juli 2007 von US-Soldaten zusammengeschossen und getötet werden.
Wir bemerken die Zeit, die vergeht zwischen dem Ton der Bordkanone, den wir hören, während die Männer, sich noch entspannt unterhaltend, weiter über eine Straße Bagdads laufen bis zu den für sie überraschenden, plötzlichen Einschlägen der Geschosse.
Dieser Versatz zwischen Bild und Ton irritiert uns vielleicht einen kurzen Moment, aber dann fällt es uns ein:
Die Distanz zwischen Apache-Hubschrauber und den Menschen auf der Straße ist groß. Sie beträgt, ist zu erfahren, hier ca. anderthalb Kilometer. Die Männer auf der Straße nehmen den Hubschrauber nicht wahr. Das ist mir aufgefallen, noch bevor ich realisiert habe, dass diese Männer jetzt sterben vor unseren Augen. Es ist wirklich.
Ich bemerke nicht gleich, dass meine Perspektive, die der Soldaten im Hubschrauber ist. Dass wir dasselbe sehen wie sie.
Wer bei den ersten Salven nicht gleich tot ist, versucht zu fliehen, sich zu verstecken und wird professionell geduldig verfolgt, bis er erschossen werden kann.
Durch Julian Assanges Arbeit und Haltung, die Plattform WikiLeaks haben wir von illegalem staatlichem Handeln, von Unrecht, Morden und Kriegsverbrechen erfahren, Dinge, die für die Öffentlichkeit, für Bürgerinnen und Bürger – für uns alle – im Dunkel, verschwunden, unsichtbar bleiben sollten.
Es handelt sich um die Offenlegung von Informationen zu Finanzströmen und versteckten Konten, um amtliche E-Mail Konversationen, um die Veröffentlichung von Bildern, die Morde zeigen an unbewaffneten Zivilisten und Journalisten im Irak durch Angehörige der US-Armee, um willkürliche Tötungen von Zivilisten in Afghanistan, um Geheimdienstprojekte zur Manipulation öffentlicher Meinung, um zur Erinnerung für die lachenden Täter fotografierte Erniedrigung und Folter im Gefängnis Abu Ghraib, die Zustände im immer noch bestehenden Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba, durch die wir daran erinnert wurden, was Waterboarding ist. Die Liste ist nicht vollständig.
„We open Governments“.
Damit wir wissen. Es ist ein demokratischer Akt, Transparenz herzustellen.
Einzig dafür wird Julian Assange verfolgt. Einzig deswegen seine Gefangenschaft im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh.
Denn, das wusste auch schon mein vierzehnjähriger Großvater in einem Schulaufsatz von 1912 zu berichten:
„... Da es auch im Interesse jener blutgierigen Wüteriche auf dem Thron liegt, dass der eiserne Mechanismus und Gehorsam ihrer Heere durch Unwissenheit und Wahn die rechte Zuverlässigkeit gewinne, verwahren sie sorgfältig ihre Völker vor dem Licht der Aufklärung und des Wissens damit kein befreiender Strahl des Lichts in die dunkle Nacht der Untertanen dringe...“
Daran wird sich etwas ändern.
Der Konrad Wolf Preis der Akademie der Künste geht in diesem Jahr an den Journalisten und Aufklärer Julian Assange und damit auch an seine Arbeit für Transparenz, für die er steht, und für seine – lebensnotwendige – Zähigkeit und den dafür nötigen Mut.
Julian Assange ist ein würdiger Preisträger, dessen Werk WikiLeaks Regierungshandeln, Kriegslügen und Kriegsverbrechen, Verschleierungen an den Tag bringt.
Julian Assanges Arbeit ist im besten Sinne journalistische Aufklärung.
Die Welt demokratisch zu ändern, sie braucht es.
Demokratie ohne Transparenz ist keine. Jedenfalls nicht sehr lang.
Julian Assange lebt jetzt seit vier Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. Ihm widerfährt dort eine Behandlung, die der UN-Sonderberichterstatter für Folter von 2016 bis 2022, Nils Melzer, als Folter erkannt und ausführlich belegt hat. Das Verfahren gegen Assange geht über die Person Assange hinaus. Es ist eine Drohung. Es dient staatlicher „Einhegung“ von Transparenz, und Pressefreiheit. Es ist Abschreckung. Überall. Weltweit.
Die USA verlangen von Großbritannien die Auslieferung von Julian Assange. US-Präsident Biden nennt ihn einen Hightech „Terroristen“. Assanges Versuch der Berufung gegen die gerichtlich bereits erfolgte Genehmigung der Auslieferung an die USA ist abgelehnt.
Der Journalist Julian Assange soll in den USA wegen Spionage angeklagt werden. Ihm drohen 175 Jahre Haft.
Das Schweigen der Bundesregierung dröhnt. Die Wunden bleiben offen.
„In den USA ist eine Entscheidung getroffen worden, die wir aus unserem Rechtsverständnis heraus anders sehen“, verlautet das Außenministerium. Aber was folgt daraus?
Im Foyer unserer Akademie kann man auf einem Monitor das Ringen einer Sprecherin in der Bundespressekonferenz, mit Worten nichts zu sagen, sehen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich aktiv und mit allen ihren Möglichkeiten bei unseren amerikanischen und britischen Partnern für die Nichtauslieferung und umgehende Freilassung des Journalisten Julian Assange einzusetzen.
Die eigene Haltung der deutschen Bundesregierung zum Fall des Journalisten Julian Assange muss klar und gegenüber ihren Bürgern wie unseren verbündeten Staaten, unseren Freunden, öffentlich benannt und vertreten werden.
Wir wollen das jetzt wissen. Und wir verlangen zu handeln.
Und wir brauchen, mutige, angstlose Bürger, die dieser Forderung immer wieder Nachdruck geben.“
Thomas Heise