23.11.2018, 14 Uhr
Eine Zähmung der Internetgiganten von Seiten der Urheber ist überfällig: Ingo Schulze zum Urheberrecht
Für die 6. Urheberrechtskonferenz am 19.11.2018 in der Akademie der Künste am Pariser Platz hat der Schriftsteller und Akademie-Mitglied Ingo Schulze seine Haltung zum Thema Urheberrecht im Informationszeitalter formuliert.
In seiner Rede geht er besonders auf die Bedeutung der Verwertungsgesellschaften und die Notwendigkeit, Google, Facebook & Co. beim Urheberrecht endlich in die Plicht zu nehmen, ein. Denn die Urheber „sind es, die nicht unwesentlich zur Attraktivität der Plattformen beitragen, was diesen wiederum hilft, Werbung und Nutzer zu gewinnen", so Schulze.
Hier können Sie die Rede in Gänze nachlesen:
Mehrmals wurde ich vor den Abstimmungen über die „Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt" aufgefordert, mich zu äußern. Ich war überrascht. Wieso kamen die Journalisten auf die abwegige Idee, ausgerechnet mich zu diesem Thema zu befragen? „Naja", sagten sie, „eigentlich geht uns das doch alle an." Die Anrufer gestanden offenherzig ihre eigene Unbedarftheit bei diesem Thema ein. Es stellte sich auch heraus, dass ich nicht der erste war, den sie zu befragen versuchten.
Wieso kümmere ich mich nicht, warum kümmern wir uns nicht um unsere ureigenen Angelegenheiten?
Ich habe das große Privileg, von jener Arbeit leben zu können, die ich am liebsten mache. Um es in einer traditionellen Terminologie auszudrücken: Ich kann von nichtentfremdeter Arbeit leben. Die Bestimmung von literarischer Qualität ist selbstredend umstritten und die Beziehung von literarischem Text und Geld ist in aller Regel nur darin berechenbar, dass am Ende höchst selten Wohlhabenheit rauskommt. Dessen eingedenk muss man aber festhalten, dass sich unsere arbeitsteilige Gesellschaft einige hundert, vielleicht auch tausende, vollzeitbeschäftigte Geschichtenerzähler leistet. In den meisten Ländern, womöglich in allen, ist ihre Zahl kleiner oder tendiert sogar gegen Null. Ich hatte das Glück, mich von meinem ersten Buch an auf so einer „Position" wiederzufinden. Ob ich diese bis zu meinem Lebensende oder zumindest bis zur Rente behalten werde, steht dahin. Sollte mir nichts mehr Neues einfallen, sollte ich keinen Verlag finden, der es verbessert, in Form bringt, druckt und zugleich digital bereit stellt, sollte es nicht genügend Leserinnen und Leser geben, die bereit sind, diese Bücher und ebooks käuflich zu erwerben, müsste ich mir eine andere Arbeit suchen.
Schönerweise bringt unser Gemeinwesen Büchern und deren Produzenten eine besondere Wertschätzung entgegen. Wir haben eine Buchpreisbindung, einen Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent auf Bücher und eine Künstlersozialkasse, die künstlerisch Kreativen die schlimmsten Befürchtungen im Falle von Krankheit und im Alter erspart. Natürlich profitieren wir von vielen anderen Dingen, wie der hohen Anzahl Deutschsprachiger, dem exzellenten Buchhandel, den Bibliotheken und Literaturhäusern, überhaupt den Traditionen, vor allem jener der bezahlten Lesungen, dem Schulwesen, den Universitäten mit Forschung und Lehre, aber auch vom Goethe-Institut, von Stiftungen, Übersetzungsförderungen, Preisen und Stipendien.
Unterschlagen habe ich eine wichtige Stütze meiner Existenz, die „Verwertungsgesellschaft Wort". Mit den Schecks der VG Wort entlohnt unser Gemeinwesen diejenigen, die an und mit den Wörtern und Worten arbeiten, für ihren Beitrag am Gemeinwohl, das nicht allein nach den Marktregeln zu bestimmen ist. In mageren Jahren ist die Zahl auf dem Scheck zwei- oder dreistellig, in fetten Jahren vierstellig, und es soll auch schon fünfstellige Schecks gegeben haben.
Der Geschäftsbericht von 2017 verbucht Einnahmen von knapp 293 Millionen, die an 247.635 Empfänger nach einem bestimmten Schlüssel aufgeteilt werden. Interessanter Weise wird die Hälfte dieser Summe durch die sogenannte „Kopiergerätevergütung" erbracht, gefolgt von rund 99 Millionen, die aus Hörfunk und Fernsehen kommen. Unter den 17 aufgelisteten Posten gibt es die Bibliothekstantieme, Schulbuch, Pressespiegel, Lesezirkel etc. Was das Internet betrifft, werden bereits wissenschaftliche Publikationen berücksichtigt (Texte im Internet, METIS). Dabei wurden 7.480.343 Euro an 16.750 Autoren ausgeschüttet (im Vorjahr waren es „nur" 5,43 Mio. an 14.699 Autoren).
Nun lässt sich alles, was ich bisher aufgezählt habe, auch in Frage stellen. Der EU sind die deutsche Buchpreisbindung und der verminderte Mehrwertsteuersatz ein Dorn im Auge, weil sie einen „schwerwiegenden Markteingriff" darstellen, die Industrie gibt selbstverständlich keinen Cent freiwillig ab, der AfD gilt der ganze Kulturbetrieb als „links-versifft" und Kolleginnen und Kollegen, deren Manuskripte keinen Verlag finden, sehen womöglich auch einiges anders als ich, was mir in ihrer Situation wohl ähnlich ginge.
Wer aber diese Bedingungen und Vergütungen als angemessen und nach einem gerechten Ausgleich strebend akzeptiert, muss sich fragen, warum die digitalen Plattformen und Austauschmedien, deren Größe und Reichweite jene von Kopiergeräten, Lesezirkeln und Bibliotheken, euphemistisch ausgedrückt, in den Schatten stellen, davon unberührt bleiben sollen. Überhaupt stehen die europäischen Staaten erst ganz am Anfang, um die Internetgiganten einzuhegen. Es gibt unfassbarerweise – man möchte gern mehr als nur den Kopf schütteln – immer noch keine angemessene Besteuerung für sie. Diese ist allerfrühestens für 2020 zu erwarten.
In einer Erzählung mit dem Titel „Nachtgedanken beim Schreiben einer Rede zum digitalen Urheberrecht im Binnenmarkt" ließe sich trefflich schildern, welche Irritationen, Panikattacken und wechselnden Überzeugungen mich befielen, als ich begann, mich damit zu beschäftigen – und die mich teilweise bis heute begleiten. Ich hatte die wichtigsten Abstimmungen überhaupt in EU-Europa verschlafen, meinen EU-Abgeordneten nicht angerufen und ihm Dampf unterm Hintern gemacht, gegen „Uploadfilter" und für „Memes" zustimmen, ich hatte nichts dafür getan, eine „drohende Zensur" zu verhindern. Wie so oft, hatten andere für mich gekämpft und das Ruder herumgerissen. Aber warum titelte die New York Times: „Tech Giants Win a Battle Over Copyright Rules in Europe"?
Im September sah plötzlich alles wieder anders aus, die Abgeordneten waren scharenweise auf die Seite der Befürworter des geänderten Gesetzes übergelaufen, das nun doch im Sinne meiner Interessen als Urheber, als Content-Macher zu sein schien. Musste ich mich zwischen Axel Springer & Co. und Google, Facebook & Co. entscheiden? Hatten die Bürgerlich-Konservativen meine Interessen besser vertreten als die Linken? Endet meine sozialistische Gesinnung dort, wo mir Einbußen als selbstständiger Unternehmer drohen? Ich sehe mich nicht nur als Schreiber, also als Urheber, ich bin ja vor allem ein Leser, ein Nutzer. Auch im Urheberrecht gibt es Schranken, die aus Abwägungen mit anderen Interessen, auch Grundrechten entstanden sind – Zitat, Berichterstattung, Parodie – und kein auch nur annähernd in Aussicht stehendes Computerprogramm kann das leisten zu unterscheiden. Zudem gibt es den Interessenkonflikt: Große gegen Kleine Plattformen. Wenn man Gesetze so schreibt, als gäbe es im Internet nur die großen Plattformen, wird das irgendwann auch stimmen.
Ich las kreuz und quer die verschiedenen Standpunkte und stellte fest: ALLE wollen die Urheber schützen. Die Frage ist nur: Wie soll das geschehen? Und wann bin ich Urheber und wann Nutzer oder wo verläuft die Trennlinie? Und wer sind die Garanten der Freiheit im Internet? Und wessen Freiheit – Freiheit wovon und Freiheit wofür – ist eigentlich gemeint?
Ich versuchte das Gesetz selbst zu studieren, was etwa so ist, als schlage man erstmalig eine Schrift von Heidegger auf. Einige Passagen gefielen mir – in ihnen drückte sich Fürsorge und Verständnis für die Situation der Urheber aus. Bei anderen blieb mir der Sinn verborgen. Ich suchte, teils mehrfach, Rat bei einem Vertreter der Verwertungsgesellschaften, bei einer Bundestagsabgeordneten der Linken, die die jetzige Fassung kritisiert, und bei einem auf Urheberrecht spezialisierten Juraprofessor.
Die Zusammenfassung meines momentanen Wissensstandes passt in relativ wenige Bemerkungen:
- Ebenso überfällig wie die angemessene Besteuerung der „Tech Giants" ist deren Zähmung von Seiten der Urheber. Denn sie – die Urheber – sind es, die nicht unwesentlich zur Attraktivität der Plattformen beitragen, was diesen wiederum hilft, Werbung und Nutzer zu gewinnen. Wir backen also einen Teil des Kuchens, der gewinnbringend verkauft wird.
- Die Haltung derer, die in Google & Co. Garanten der Freiheit sehen, erscheinen mir letztlich wie jene freundlichen Menschen, die Anfang der Neunziger Jahre in unserem kleinen Anzeigenblatt anriefen und sich dafür bedankten, dass wir ihnen eine Zeitung schenkten.
- Die strittigen Fragen betreffen vor allem den Einsatz von „Uploadfiltern", die nicht lizenzierte Inhalte erkennen sollen können, und das sogenannte „Leistungsschutzrecht". Der Umschwung im EU-Parlament zugunsten der „Richtlinie" scheint sich – sucht man die Ursachen dafür im Text – aus dem Verschwinden des Begriffes „Uploadfilter" und der Befreiung von nichtgewinnorientierten Plattformen von der Lizenzierungspflicht zu erklären. Nun stimmten auch die sozialdemokratischen Parteien und Teile der Grünen zu.
- Der Beginn des für uns entscheidenden Passus von Artikel 13 lautet: „Diensteanbieter der Informationsgesellschaft, die große Mengen der von ihren Nutzern hochgeladenen Werke und sonstigen Schutzgegenstände in Absprache mit den Rechteinhabern speichern oder öffentlich zugänglich machen, ergreifen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass die mit den Rechteinhabern geschlossenen Vereinbarungen, die die Nutzung ihrer Werke oder sonstigen Schutzgegenstände regeln, oder die die Zugänglichkeit der von den Rechteinhabern genannten Werke oder Schutzgegenstände über ihre Dienste untersagen, eingehalten werden. Diese Maßnahmen wie beispielsweise wirksame Inhaltserkennungstechniken müssen geeignet und angemessen sein." Die Interpretation dieser Passage ist entscheidend. Wünschenswert wäre in unserem Sinn, wenn „die mit den Rechteinhabern geschlossenen Vereinbarungen" jene „Inhaltserkennungstechniken" überflüssig machten, was ebenso der Hauptforderung der Gegner entsprechen würde, die sich im wesentlichen auf den Entwurf des „Binnenmarktausschusses" stützen, der Plattformen verpflichtet, die Inhalte, die sie „monetarisieren", zuvor mit den Verwertungsgesellschaften zu verhandeln. Diese sind in der Lage und verfügen über die notwendige Infrastruktur, um die Vergütungen zuzuordnen.
- Die Wirkungen, die jene vom Urheberrecht bewirkten Einschränkungen haben, lassen sich schon eine Weile auf Youtube studieren.
- Innerhalb der Gegner der Richtlinie unterscheidet sich auch die Definition des Begriffes „Urheber". Um dies zu klären, ist sicherlich die Frage, wer verdient womit Geld, besser geeignet als die Frage, was ist Kunst, was ist Literatur?
- Die Koalitionen, in denen man sich zur Zeit wiederfindet, können verstörend sein.
- Das 2013 in Deutschland eingeführte „Verlegerleistungsschutzrecht" hat kurioserweise dazu geführt, dass große Verlage wie Axel Springer Google freiwillig eine „Null-Euro Lizenz" erteilt haben, damit Google weiterhin kostenlos die entsprechenden Zeitungsartikel verlinken. Denn andernfalls landete nur ca. die Hälfte der Leser auf diesen Seiten und bei den Anzeigen der Werbekunden der Verlage. Wie dieses Modell mit einer längeren Schutzfrist europaweit funktionieren soll, da es schon in Deutschland nicht funktioniert, bleibt ein Rätsel. Sollten allerdings die „Tech Giants" dank einer Pauschalregelung tatsächlich Geld an die Verlage zahlen, dann muss dieses anteilig auch bei jenen landen, die diese Artikel geschrieben haben.
- Die Drohung der großen Plattformen, keine Pauschalzahlungen zu akzeptieren und stattdessen Uploadfilter und ähnliches einzubauen (Google und Facebook haben sich mehrfach in diesem Sinne geäußert), wenn es also nicht möglich sein sollte, auf gesetzlichem Wege eine Beteiligung der Urheber zu erreichen, sollten das die Parlamentarier in Deutschland und Europa endlich – endlich! – zum Anlass nehmen, einen eigenen Suchdienst, ein eigenes Facebook etc. aufzubauen und/oder grundsätzlich über die Vergesellschaftung der „Tech Giants" nachzudenken. Wieso überlassen wir unsere Geheimnisse überhaupt Privatunternehmen, die sich demokratischer Kontrolle entziehen? Zudem käme niemand auf die Idee, den Straßenverkehr samt aller Regeln in private Hände zu geben oder darin zu lassen.
- Es ist wichtig zu verfolgen, was in den Gesprächen zwischen EU-Parlament, Rat und Kommission in den nächsten Wochen und Monaten tatsächlich ausgehandelt wird.
Ich komme zum Schluss.
Mich hat das Internet lange Zeit nicht wirklich interessiert, weil ich es fälschlicherweise nur als Verstärker gesehen habe, im Guten wie im Bösen. Jaron Lanier, der auch hierzulande bekannte Internetpionier, ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, nennt heute Google, Facebook, Twitter & Co. allerdings sehr klar und nachdrücklich nur noch „Brandverstärker".
In einem Interview sagte er in diesem Jahr: „All die Eltern, die bei Google und Facebook arbeiten, erlauben ihren Kindern nicht, die Produkte zu benutzen, die sie selbst entwickeln."
Wir müssen uns Gedanken über Besteuerung, Urheberrecht und Eigentumsverhältnisse machen. Es kann aber nicht schaden, sich an Marshall McLuhan und seine These zu erinnern: Das Medium ist die Botschaft. Der tatsächliche Raum, in dem Menschen körperlich anwesend sind, ihre Namen nennen, die andere oder den anderen ansehen, reden und zuhören, sich anschreien oder anlächeln, erscheint mir mittlerweile als ein Wert an sich, und insofern erscheint mir auch das heutige Zusammensein bereits als ein Gewinn.