27.9.2021, 13 Uhr
„Schweigen ... ist eine nicht zu unterschätzende Größe menschlichen Ausdrucks." Kerstin Hensel über Friedrich Christian Delius' neues Buch Die sieben Sprachen des Schweigens
Am 22. September stellte Friedrich Christian Delius im Gespräch mit Lothar Müller sein neues Buch Die sieben Sprachen des Schweigens in der Akademie der Künste vor. Warum die drei Erzählungen vom Schweigen als eigensinnigen Teil des Sprechens handeln und die Lektüre gerade in unser heutigen Zeit unbedingt lohnt, erörterte Kerstin Hensel in ihrer Begrüßungsrede:
Guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Freunde der Literatur, die ich, wie mich selbst, als Sprach-Bedürftige unserer Gesellschaft sehe, bzw. erhoffe. Um Sprache geht es nämlich auch heute Abend. Friedrich Christian Delius wird seinen neuen Prosaband Die sieben Sprachen des Schweigens vorstellen. Schweigen, das evoziert schon der Titel, ist nicht als einfacher Gegensatz zum Sprechen gemeint, sondern als eigensinniger Teil desselben. Es tritt trotzig als Widerborst, Bremser oder Abwehrspieler auf – kann aber auch Schutz vor unheilbarer seelischer Verletzung, sowie Mittler für Verstehen und Verständigung sein. Und: Schweigen ist Regulativ zu dem, was sich als Macht oder Übermacht gebärdet. Es ist eine nicht zu unterschätzende Größe menschlichen Ausdrucks.
FC Delius, der 1943 in Rom geborene hessische Pfarrerssohn, Fußballkenner, Gesellschaftsdurchblickende, Literaturwissenschaftler, Lektor, Schriftsteller, Chronist, Büchnerpreisträger und Akademiemitglied hat also ein neues Buch vorgelegt, das unbedingt lohnt, gelesen zu werden. Gerade in unserer kommunikationsgestörten Zeit, in der mannigfaches Schweigen (das Notwendige!) nicht gehört wird, sondern die sich von Sprachverbiegung, lautlichen Verordnungen und zahllosen Missdeutungen beherrschen lässt.
Das Buch versammelt drei Erzählungen, die, ich zitiere den Autor, „aus den Quetschungen des Lebens“ entstanden sind; geschrieben in der schönen unaufgeregten Delius'schen Sprache: klar, poetisch, bedacht, mitunter heiter, leicht auch noch in der Härte des Verhandelten.
Da ist die erste Erzählung mit dem Titel Die jerusalemsche Krawatte. Sie beschreibt eine Reise nach Israel, ist jedoch kein gewöhnlicher Reisebericht, sondern eine metaphorische Lebensexkursion. Da diffundiert die eigene Familiengeschichte des Autors mit Weltgeschichte, Religion, Literatur, mit vielem in der Vergangenheit Erlebten und dem, was vor Ort erlebt wird. Unterschiedliche Religionen, Geschichtliches, Politisches und Mentales treffen harsch aufeinander, wie fast immer, wenn ein Deutscher nach Israel kommt, vor allem, wenn es ein kritisch Denkender ist.
Delius' Erzählung über seine Herkunft wird zum Palimpsest der Abraham-Isaak-Geschichte aus dem Alten Testament. Darin befiehlt Gott Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, um am Ende für seine Gottesfurcht belohnt zu werden. Ein großartiges Abarbeitungsbild, das bei Delius ganz ohne Pathetik oder eitler Bezüglichkeitsmanier auskommt.
Die zweite Geschichte Die sieben Sprachen des Schweigens lässt uns an einem Gang mit Delius und dem jüdisch-ungarischen Schriftstellerkollegen Imre Kertész teilhaben. Dieser Gang, der natürlich mehr als ein Spaziergang ist, findet durch Schillers Gartenhaus und durch Jena statt. Auch hier geht es um Leben, Kultur und Geschichte.
Ich lese diese Erzählung unter anderem als feingezeichnetes Portrait von Kertész, als herzlich zugeneigte Ausleuchtung dieses beeindruckenden Menschen – doch eigentlich wird der Leser vom Autor auf einen fast stummen Gang mitgenommen, der eine Bewegung durch Zeit und Raum ist. Durch Schweigen, bzw. das Fast-Nicht-Sprechen kommt das Gespräch zustande. Doch dieses Verhaltene ist nicht der Faulheit, Fremdsprachenunkenntnis oder gar Ignoranz geschuldet, sondern entsteigt dem Wissen um den anderen. Kertész, der „eine Überdosis an deutscher Unheilsgeschichte abbekommen hat“, entzieht sich dem Gespräch, indem er seine Literatur sprechen lässt. Auch Delius hatte „eine diebische Freude an der wortlosen Verständigung“.
In der Titelerzählung geht es also ebenfalls um das Gespür für Sprache, um deren Strahlung, den Nachhall, aber auch um Missbrauch derselben.
Die dritte Geschichte lautet ...oder die Stimmlosigkeit der Stimmbänder und dreht sich um ein durch Krankheit erzwungenes Schweigen. Die Stimmbänder samt Sprechapparat sind physisch stillgelegt, das Schweigen herrscht absolut. Es ist kein Verbündeter des Autors mehr, sondern macht ihn, zunächst, hilflos. Doch auch im Delir übertritt das Bewusstsein die gewöhnliche Welt und begibt sich in erweiterte Zustände, d.h. in ver-rückte Ein- und Ansichten. Ich lese eine wunderbar tragikomische Existenzkampfschilderung, bei der mir noch einmal klar wurde, wie schwer und gleichzeitig erleichternd es für den Autor gewesen sein musste, jene Bereitschaft und Energie zu aufzubringen, um mit sprachlich wohlgeformter Gelassenheit uns an seinem vielfältigen, interessanten Lebensstoff teilhaben zu lassen.
FC Delius schrieb einmal in einem literarischen Selbstportrait: „Wer schweigt und stottert, mag, im Idealfall, ein glühender Liebhaber der Sprache sein.“
Kerstin Hensel