8.11.2019, 10 Uhr
„... ob dies Zeichnen hilft?“
Spuren der Übersetzungsarbeit im Imre-Kertész- Archiv
Das Imre-Kertész-Archiv in der Akademie der Künste, das Manuskripte, Typoskripte, persönliche Dokumente, Briefe, Rezensionen und Fotografien umfasst, bekam nach dem Tod des Schriftstellers am 31. März 2016 bedeutenden Zuwachs. Zu den Ergänzungen gehört eine Arbeitsskizze, die eine eigenhändige, mit handschriftlichen Erläuterungen versehene Zeichnung des Schriftstellers vom Mobiliar seiner Budapester Wohnung in der Török Straße 3 zeigt. Ohne künstlerischen Ehrgeiz ist sie offensichtlich spontan für die deutsche Lektorin angefertigt worden. Gleichwohl verweist die nach Berlin gefaxte Skizze auf einen größeren Zusammenhang. Hier geht es um einen wichtigen, im Archiv besonders gut dokumentierten Aspekt des künstlerischen Lebenswerks: um die deutschsprachige Übersetzung seiner Werke.
Literarische Übersetzung – diese mühsame, anspruchsvolle und dennoch eher unscheinbar daherkommende Tätigkeit, die erst das Phänomen Weltliteratur begründet – sicherte lange Zeit das Auskommen von Imre Kertész. Seit den 1980er Jahren übertrug er, parallel zur Arbeit an eigenen Prosawerken, zahlreiche literarische und philosophische Werke aus dem Deutschen ins Ungarische, darunter Autoren wie Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Elias Canetti, Tankred Dorst, Peter Härtling – und auch Walter E. Richartz. Dessen Büroroman (dt. 1976; ungar. 1981) schildert die alltägliche Monotonie der kleinen Büroangestellten, die Verlorenheit der Individuen in der bürokratischen Maschinerie. Die detaillierte Darstellung der Büroeinrichtung hinterließ unverkennbare Spuren in Kertész‘ Roman Fiasko, an dem er seit 1976 arbeitete. In Fiasko zeichnet Kertész minutiös im Richartz’schen Stil eines Inventarverzeichnisses das immer gleiche Umfeld eines Schriftstellers (des „Alten“), eine „Garçonniere“ von 28 m² samt Möblierung, die er als „verhältnismäßig wohnliche[n] Käfig“ bezeichnet.
Offensichtlich stellte die Übertragung ins Deutsche den Übersetzer und die Lektorin vor eine besondere Herausforderung. Um die komplizierte Beschreibung des Raumes und seines Mobiliars zu verstehen, bedurfte es einer Skizze des Autors zur Veranschaulichung:
Der Alte stand vor dem Sekretär. […] Es läßt sich nicht vermeiden, an dieser Stelle einige Worte über den Sekretär fallenzulassen.
Dieser Sekretär war ein direkter Sprößling des Büchereckschrankes, dessen beide Flügel die südwestliche Ecke des sich mit seiner Straßenseite nach Westen wendenden Zimmers einnahmen, genauer, den Raum vom südlichen Rand des sich in Nordsüdrichtung erstreckenden Fensters bis zur Zimmerecke sowie den Raum westlich der an der Ostwestwand plazierten Kommode bis zur Ecke, über eine ungefähr 1,20 Meter lange Wandauskragung hinweg, deren Bewandtnis nie von jemandem geklärt werden konnte und die (sozusagen verschämt) durch eine aufgeklebte (auffallend schlecht aufgeklebte) gleichsam als Teil des Bücherschrankes zu betrachtende Holzplatte, wenn auch nicht ganz bis zur Decke, so doch bis zur vollen Höhe des Bücherschrankes – das heißt gut zwei Meter hoch – verdeckt war.
(Imre Kertész, Fiasko. Aus dem Ungarischen von György Buda. Berlin 1999, S. 7f.)
Die sorgfältigen deutschsprachigen Übertragungen von Imre Kertész‘ Werken legten den Grundstein für seinen internationalen Durchbruch. Eine erste Übersetzung von Sorstalanság mit dem Titel Mensch ohne Schicksal, publiziert bei Rütten & Loening, ging 1990 in der Umbruchsphase von Mauerfall und Wiedervereinigung unter. Ab 1992, mit der Veröffentlichung seines Romans Kaddisch für ein nicht geborenes Kind im neugegründeten Verlag Rowohlt Berlin, setzte der Publikumserfolg ein. Ein Werk nach dem anderen wurde ins Deutsche übertragen. Besondere Beachtung erhielt Christina Viraghs Neuübersetzung von Sorstalanság, die 1996 unter dem heute geläufigen Titel Roman eines Schicksallosen erschien. Auch späteren Werken wurde Erfolg zuteil, so dem 1988 in Ungarn veröffentlichten Roman A kudarc, der 1999 in der deutschen Übertragung als Fiasko erschien.
Die Spuren dieser langen, ertrag- und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Imre Kertész und seinen Verlegern, Übersetzern und Lektoren, ohne die der Nobelpreis 2002 nicht denkbar gewesen wäre, dokumentiert das Imre-Kertész-Archiv auf vielfältige Weise – sogar mit einer Zeichnung zur Illustration einer Textpassage.
Beitrag in ungarischer Sprache / Közlemény magyarul
Ansprechpartnerin: Katalin Madácsi-Laube, Literaturarchiv