7.5.2020, 19 Uhr
Zum 8. Mai 2020 – Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren
Vor 75 Jahren kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Am 8. Mai gedenken wir des Endes des Zweiten Weltkriegs und damit der Befreiung vom Nationalsozialismus. Anlässlich dieses Tages, an dem die Erinnerung gefeiert werden sollte als Ausgangspunkt für Verständnis und Freiheit, finden Sie hier von der Fotografin Helga Paris (Akademie-Mitglied seit 1996) eine Erzählung und Fotos aus ihrer Serie „Erinnerungen an Z". Ihren Erinnerungen an die Tage nach dem Krieg folgt ein Gespräch, das Helga Paris mit Nike Bätzner, Professorin für Kunstgeschichte, geführt hat.
Helga Paris: „Erinnerungen an Z." (1994)
Meine Schwester wollte, dass Mutter mit uns ins Wasser geht. Das war, als die Russen in den Luftschutzkeller eindrangen. Ich hatte Angst, dass Mutter ihr Flehen erhört. Meine Schwester war acht, ich sechs.
Vergewaltigen ist, dachte ich, wenn sie den Frauen die Ohrringe herausreißen.
Wenn ich aus der Schule kam, war die Wohnung noch kalt. Neben dem Ofen stand ein geflochtener Korb mit großen Holzscheiten. Ich liebte es sehr, Feuer zu machen. Mit einem Küchenmesser schnitt ich kleine Holzspäne, wickelte sie in Papier und schichtete darüber kreuzweise das Holz. Es war aufregend zu beobachten, ob die Flammen stark genug sein würden, die großen Scheite zu fassen. Wenn es dann richtig brannte, das Holz krachte, saß ich noch lange davor. Ich mochte den Geruch von den trocknenden Uniformen, die meine Mutter rings um den Ofen aufgehängt hatte, um sie dann fein gebügelt und gefaltet an die russischen Soldaten zurückzugeben – für Brot.
Meine schönsten Schuhe habe ich auf einem verlassenen Dachboden gefunden. Silbernes Leder, hohe Absätze, Spangen, Knöpfchen. Mit dicken Socken passten sie fast. „Größe 35" war in die feine Ledersohle geprägt. Eigentlich liefen wir barfuß.
Die größte Scham für uns Mädchen war, mit diesem Bollerwagen durch die Stadt fahren zu müssen: vier kleine massive Metallräder, darauf Wellblech. Das Kopfsteinpflaster verursachte entsetzlichen Lärm. Einmal aber war er Ursache für unverhofftes Vergnügen. In der Nähe des Bahnhofs baten uns einige Herren, ihre Koffer und Musikinstrumente darauf zum Deutschen Haus zu befördern. Dafür bekamen wir Freikarten für das Konzert am Abend. Stolz saßen wir in der ersten Reihe, und Otto Kermbach zwinkerte uns zu.
Ein beliebtes Spiel war „Ich habe die Wut auf ...". Ein Kreis wurde wie eine Torte aufgeteilt. Die Stücke waren verschiedene Länder. Jedes Kind stand mit einem Bein in seinem Land, mit dem anderen, zum Weglaufen bereit, schon außerhalb. Ein Kind schrie: „Ich habe die Wut auf Polen!" Alle rannten weg, Polen rannte in die Mitte und rief: „Stop." Mit drei Schritten musste es eines der Kinder erreichen. Wenn nicht, durfte jedes ein Stück von Polen wegnehmen. Am liebsten wollten alle Amerika sein.
An der Weinbergstraße hinter einem Bretterzaun gab es etwas, das wir uns nicht erklären konnten. Durch ein Loch kam eine weiße Schlange heraus. Aber nur wir Kinder sahen es. Die Erwachsenen gingen vorbei, als wäre da nichts.
Die Linden blühten. Hinter den Scheunen in der Sonne sitzen und an den Knien lecken – das roch gut.
Der weiße Spitz unserer Nachbarn ist gern Dampfzug gefahren, einmal sogar bis Rangsdorf. Die Leute kannten ihn und setzten ihn wieder in den Zug zurück nach Z.
Zum Maskenball ging meine Mutter als Rotkäppchen. Keiner hat sie erkannt, nicht mal mein großer Bruder. Von dem puren Sprit war sie fast vergiftet und lag drei Tage blind im Bett.
Mein Opa hatte Karnickeldraht vor den Bücherschrank genagelt, weil die Scheiben fehlten. Er priemte unentwegt und trank die „Hoffnungstropfen" meiner Oma weg, weil Alkohol darin war. Alle sagten, er war früher lustig. 1947 ist er verhungert.
Einmal gab es Zirkus. Ein Hypnotiseur machte, dass Frau Polomka wie ein Baby auf der Erde gelegen und Mama gerufen hat. Hinterher weinte sie über die Schande.
Vor dem zerstörten Rathaus gab es einen Bretterzaun. Daran warben Plakate für die Vereinigung von KPD und SPD. Ich erinnere mich daran nur wegen des Reimes, den wir Kinder immer schrien: „SED liegt im Schnee, das tut weh."
Tante Hanni besaß eine Agfa Billy Record. Viele Fotos aus dieser Zeit sind zerschnitten, die Russen fehlen.
Sascha liebten wir sehr. Er wollte meine Tante Dora heiraten. Als ihr Verhältnis bekannt wurde, kam sie in den deutschen und er in den russischen Knast. Wir sahen ihn nicht wieder. Sascha hat wunderbar gezeichnet. Ein Adler von ihm erschien mir als das schönste Bild der Welt.
Der Major wohnte im oberen Zimmer. Er klopfte immer leise an und blieb dann in der Küchentür stehen, wenn er mit einer Verbeugung um Teewasser bat.
Einmal kam mein Bruder mit einem Stück gesalzener Butter, das so groß war wie eine Fußbank. „Jetzt machen wir Fettlebe", hat meine Mutter gesagt und nicht weiter gefragt. Seitdem mischen sich in mir beim Geruch von ranziger Butter Abscheu und Gier.
Helga Paris (aufgewachsen in Zossen, bei Berlin), 1994
Schärfe, Unschärfe
Helga Paris im Gespräch mit Nike Bätzner
NIKE BÄTZNER: Für deine neueren Fotos bist du an den Ort deiner Kindheit zurückgekehrt, die Erinnerung wird zum Thema. Die Bilderzählung scheint sich noch stärker als in früheren Arbeiten an die Biografie anzubinden. Gibt deine Biografie jetzt den Antrieb, auf Motivsuche zu gehen?
HELGA PARIS: Ja, so könnte man sagen. Seit der Öffnung der Mauer werde ich immer wieder stark an Situationen in meiner Kindheit erinnert, an den Nachkrieg. Ich beobachte die Kinder, wie sie im Niemandsland zwischen den abgerissenen Mauerresten und in den verlassenen Wachtürmen spielten. Sie haben diese Orte als erste erobert. Ihre Spiele waren wild und übermütig, frei von der gewohnten Gängelei, weil die Erwachsenen mit dem Neuordnen ihres Lebens beschäftigt waren, wie damals. Im März 1945 flüchteten wir von Pommern nach Zossen, einer Kleinstadt südlich von Berlin, dem Heimatort meiner Mutter. Dort erlebten wir die Kapitulation. Im Sommer ´45 waren wir einquartiert in Häusern, die zum ehemaligen »Führerhauptquartier« gehörten und zu der Zeit schon vom russischen Militär besetzt waren. Jetzt, im Juli ´94, habe ich erfahren, daß wir in einem Tarnhaus wohnten und das sich unmittelbar daneben ein Einstieg in den Hochsicherheitstrakt, den Zeppelinbunker, befand. Die Maybach-Bunker waren damals schon gesprengt und ein gefährliches Spielgelände. In meiner letzten Arbeit, Friedrichshain, habe ich mich in gewisser Weise diesem Thema schon genähert. Der Auslöser für das Fotografieren in Zossen war der Besuch meiner Schwester 1992, die nach siebzehn Jahren aus Kanada kam. Wir haben gemeinsam die Orte unserer Kindheit besucht – Gollnow in Polen und Zossen. In dieser Arbeit mache ich eine Synthese von Porträts der Leute, die ich aus meiner Kindheit kenne, also authentischen Personen und Erinnerungsbildern, die ich als eine Überblendung von Wirklichkeit und Vision beschreiben würde.
NIKE BÄTZNER: Durch die Unschärfe ergeben sich Stimmungsbilder, das gestochen Scharfe entspricht eher der Dokumentation der Realität. Unschärfe analog zum Absinken in Erinnerung?
HELGA PARIS: Jedes genau durchgezeichnete Foto zeigt ein bestimmtes unverwechselbares Abbild, beispielsweise dieses Haus. Ein nicht so scharfes Bild zeigt ein Haus – es bietet somit dem Betrachter Assoziationsmöglichkeiten zu dieser Art von Haus. Es kann dadurch eine Wirklichkeit erzeugt werden, die mehr einschließt als das genaue Abbild.
NIKE BÄTZNER: Wird jetzt mehr an Nähe zu den Personen aufgebaut als bei den früheren Fotos?
HELGA PARIS: Die Nähe ist einfach vorhanden. Die Menschen sind mir vertraut, oft sind es Verwandte, Kinder aus meiner Klasse, Nachbarn. Und zum Ort der Kindheit gibt es wohl nichts vergleichbar Nahes. Das einfache regt mich an, Gefühlsregungen nachzugehen, die in der Kindheit begründet sind – Unbehagen, Angst, Geborgenheit. Ich bemerke immer wieder an mir eine Neigung zur Unordnung, die Anziehungskraft von Chaos, die wohl in dieser Zeit geprägt worden ist.
Aus dem Buch zur Ausstellung ERZÄHLEN in der Akademie der Künste (9. Oktober – 27. November 1994)