5.7.2023, 16 Uhr
Der leise Weg in den Totalitarismus
Seit der Gründung der Europäischen Allianz der Akademien im Jahr 2020 liegt ein besonderer Fokus auf den kulturpolitischen Mechanismen, die die ungarische Regierung seit Jahren verwendet, um unabhängige Kunst- und Kulturproduktion zu beschränken. Auf die anhaltenden Einschränkungen der künstlerischen Freiheit gab es mehrere Protestaktionen. Basierend auf dem Bericht Freedom of Art and Autonomy of Cultural Institutions in Hungary hat die Europäische Allianz der Akademien einen Letter of Complaint bei der damaligen UN Sonderberichterstatterin für kulturelle Rechte Karima Bennoune sowie eine Online Petition beim Europäischen Parlament im Mai 2021 eingereicht. Mit einer Solidaritäts-Veranstaltungen in Budapest unterstützten die Allianz-Mitglieder den ungarischen Schriftsteller*innverband Szépírók Társasága, ein Gründungsmitglied der Europäischen Allianz.
Seit zwei Wochen verfolgen die Allianz-Mitglieder die sehr beunruhigenden Entwicklungen auf dem ungarischen Buchmarkt – Cécile Wajsbrot, Schriftstellerin und Mitglied der Akademie der Künste sowie der Europäischen Allianz der Akademien, hat dazu ein Statement im Namen der Europäischen Allianz der Akademien geschrieben:
„Das Mathias Corvinus Collegium (MCC) wurde 1996 ursprünglich als Privatuniversität für Kunst und Gesellschaftswissenschaften gegründet. Mit den Jahren entstand daraus eine Institution, die prägenden Einfluss auf Orbans Eliten hat und gleichzeitig zum Aufbau eines Netzwerks für rechte und rechtsextreme Kräfte in Europa beiträgt. Im Mai dieses Jahres erwarb das MCC 90 Prozent der Eigentumsanteile der privaten Modul Universität Wien. Es werde sich nicht in die Studienpläne oder die wissenschaftliche Arbeit der Universität einmischen, so die Ankündigung des MCC. Und doch sind viele am Universitätsstandort Kahlenberg mit Blick auf die Zukunft in Sorge.
Vor zwei Wochen erwarb eben jenes MCC einen Anteil von 98,41 Prozent an Libri, das zusammen mit Lirà zu den beiden wichtigsten Akteuren der ungarischen Verlagslandschaft zählt. Bereits 2020 hatte das MCC 25,4 Prozent an Libri erworben – immerhin genug, um Entscheidungen zu blockieren. Libri besitzt über sechzig Buchhandlungen in ganz Ungarn und hat, wie auch andere kommerzielle und besonders renommierte Verlage Autoren wie Péter Nádas, Colm Tóibín or Carlo Rovelli unter Vertrag. Ungeachtet aller Beschwichtigungsversuche haben einige Autoren bereits mitgeteilt, Libri verlassen zu wollen. Der regierungsnahe Ungarische Schriftstellerverband hat die Nachricht hingegen begrüßt.
Nun prüft das Parlament eine Reihe neuer Beschränkungen, um als Reaktion auf die Forderung von Lehrkräften nach höheren Gehältern und verstärkter Dezentralisierung deren berufliche Eigenverantwortung beschneiden zu können.
Wir alle wissen oder sollten zumindest wissen, wie das funktioniert. Zu Beginn zeigen uns Diktatoren ein eher freundliches Gesicht. Doch in der Abgeschiedenheit der Büros und Abteilungen bereiten sie die künftigen Angriffe auf alle Freiheiten sorgfältig vor: in Bildung, Kunst und Kultur. Früher oder später lassen sie die Maske fallen. Es geschieht in Ungarn, es geschieht in Polen und in Italien hat der Prozess inzwischen auch begonnen. Wer ist als Nächstes an der Reihe?
Die Europäische Allianz der Akademien, die gerade erst von einer Solidaritätsveranstaltung aus Budapest zurückgekehrt ist und im Vorfeld der Parlamentswahlen demnächst nach Krakau reist, möchte angesichts zunehmender Übergriffe gegen die Meinungs- und künstlerische Schaffensfreiheit in Europa ihre tiefe Besorgnis zum Ausdruck bringen, zumal sich diese Prozesse im Verborgenen vollziehen – ohne viel Lärm, ohne viel Öffentlichkeit.“
Cécile Wajsbrot