19.7.2022

Akademie der Künste trauert um Hans-Thies Lehmann (1944–2022)

Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, geboren am 22. September 1944 in Ehringshausen/Kreis Wetzlar, ist am 16. Juli 2022 in Athen gestorben. Er war seit 2017 Mitglied der Akademie der Künste.

Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Komparatistik in Berlin, vor allem bei Peter Szondi, war er nach Assistenzen und Gastprofessuren in Berlin, Amsterdam und Gießen von 1988 bis 2010 Professor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main. 2013/2014 lehrte er Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, hatte Gastprofessuren in Japan, den USA und europäischen Ländern inne, wirkte als Dramaturg für Theaterproduktionen von Jossi Wieler, Peter Palitzsch u. a.
Neben Forschungsschwerpunkten zur Theorie der Tragödie sowie zu Heiner Müller und Brecht formte Lehmann als Hochschullehrer und Publizist die Theorie und Begrifflichkeit des postdramatischen Theaters und inspirierte dessen künstlerische Praxis entscheidend mit. An der Justus-Liebig-Universität in Gießen baute er in den 1980er-Jahren gemeinsam mit Andrzej Wirth den Studiengang Angewandte Theaterwissenschaft auf, aus dem zahlreiche die Ästhetik des Postdramatischen im deutschsprachigen Theater prägenden Künstler*innen und Kollektive hervorgingen. 1999 erschien seine bahnbrechende Schrift Postdramatisches Theater, die es erstmals unternahm, die Umbrüche im westlichen Theater seit Ende der 1960er-Jahre, seine künstlerischen Mittel und neuen Zugriffe auf die Gegenwart wissenschaftlich zu verorten. Das Buch wurde weltweit als Impuls kultureller Öffnung verstanden; in mehr als 25 Sprachen übersetzt, gewann es großen Einfluss auf die internationale Theaterszene.

Akademie-Mitglied René Pollesch würdigt Hans-Thies Lehmann: „Ein paar Kommiliton*innen aus Gießen, Student*innen aus Frankfurt und ich haben uns 2019 von ihm verabschiedet bei einer Veranstaltung ihm zu Ehren: Das internationale Symposium ‚Postdramatisches Theater weltweit‘ in der Akademie der Künste. Ihm ging es schon sehr schlecht und er nahm offiziell nicht teil, aber er sprach mit uns in einem Raum fern vom Panel. Ganz leise. Und ich kann mich auch genauso gut an sein erstes Seminar erinnern in Gießen, das immer voll mit Student*innen war. Er war vom Anfang bis zum Ende großartig. Wir waren sehr glücklich über ihn, und er sehr glücklich über uns. Er war ein großartiger Lehrer und Lernender.“

Die Akademie der Künste trauert um ihr Mitglied.

Jeanine Meerapfel
Präsidentin der Akademie der Künste