„Wenn das man gut geht!“ Ein Kempowski-Abend mit Thomas Rosenlöcher und Fritzi Haberlandt
In Kooperation mit dem Albrecht Knaus Verlag, München
Walter Kempowski, Telegramm an Margarethe Kempowski, Wittenberge, 7. März 1956, 17.15 Uhr. Walter-Kempowski-Archiv/ Akademie der Künste, Berlin
Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956 – 1970. Ausgewählt und herausgegeben von Dirk Hempel.
© 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage
19.3.1956: Ein neues Leben beginnt, das die Fortsetzung des alten sein sollte. Acht schwere Jahre liegen hinter mir, Ungewißheit vor mir. Doch heute! Heute bin ich glücklich, noch. In mir ist alles ruhig. Ich habe mich neu eingekleidet und warte auf eine Urlaubsreise nach Dänemark. Wenn ich doch nur etwas empfände! Mir ist alles fast gleichgültig. Auch mein Beruf. Irgend etwas wird schon aus mir werden.
Walter Kempowski bei seiner Ankunft in Göttingen, 1956. WKA/AdK
29.4.1956: Göttingen hat mich gut empfangen. Ich kam um 11 Uhr hier an, ging gleich in die Wagnerstraße, wegen eines Zimmers dann zum Arbeitsamt, wegen des Aufenthaltsstatus. Der Kamerad Karl Heinz begleitete mich, netter Mensch, besitzt einen Motorroller.
Am Nachmittag im Max-Planck-Gymnasium die ersten Unterrichtsstunden, man war freundlich zu mir. Ein Zimmer habe ich noch nicht, Karl Heinz brachte mich auf eigne Kappe im Historischen Colloquium unter, wo er selbst wohnt. Das ist nicht ganz unproblematisch, da ich ja kein Student bin. Außerdem wird das Colloquium vom SDS beherrscht, Sozialisten, die Leute wie uns, die wir aus Bautzen kommen, nicht gern sehen. Ich bewohne ein Doppelzimmer, das ich mit jemandem teilen muß, der sich allerdings bis jetzt noch nicht sehen ließ. Mit Karl Heinz noch bis um 1 Uhr in der Nacht unterhalten. Das war ein Tag!
Heute, am 24. 4. die ersten Mathematikstunden. Ganz so doof wie ich immer dachte, bin ich nun ja auch nicht, wie ich festgestellt habe. Schleuder machte mir das Angebot, ich könne in die pädagogische Hochschule immatrikuliert werden, ohne Abitur: Volksschullehrer, überlegen, überlegen!
Tonbandgerät »Telefunken«, von Walter Kempowski Ende der fünfziger Jahre gekauft. Kempowski-Archiv Nartum
12.7.1958: Heute früh kam wie aus heiterem Himmel das Mikrofon als Vorbote. Ich geriet in Aufregung und erkundigte mich, ob vielleicht das Tonbandgerät heute noch kommen könnte. Es hieß: Vielleicht fragen sie gegen 16.00 Uhr nochmals nach. Das tat ich denn auch. Und tatsächlich, es war da. Na, ich verlud es ganz vorsichtig auf mein Fahrrad. Zu Hause klambüserte ich dann den technischen Klimbim aus und schließlich funktionierte es. Roberts Stimme klang mir entgegen. Er sagte allerhand von rollendem Einsatz usw. Dann kam eine Sendung, die ich auch schon gehört hatte. Leider hatte Mutti nichts gesprochen. Am Abend dann, nachdem auch Karl Heinz noch kurz hereingeschneit war (ich sang mit ihm, es klang schaurig, weil ich vor Aufregung alles falsch machte) und wieder verschwand, hatte ich mehr Ruhe, mich allem zu widmen, was an Neuem zu mir gekommen war. […] Als dann alles still war, sprach ich einige von meinen literarischen Versuchen. Da war es mir, als hätten sie sich von mir gelöst. Und sie lebten wirklich. Jetzt habe ich eine kleine Pause gemacht und werde mir den zweiten Teil »meiner Sendung« anhören (»Die Begegnung«). Es ist so eine Art Pygmalion-Wunder.
Walter Kempowski, Die sogenannten »roten Bände«, Materialsammlung für die Deutsche Chronik, 1959 bis ca. 1973. WKA/AdK
Die Befragungen seiner Mutter und weiterer Familienangehöriger, auf Tonband mitgeschnitten und transkribiert, bildeten für Walter Kempowski die Grundlage für seine Romane, von »Tadellöser & Wolff« (1971) bis zu »Herzlich willkommen« (1984).
9.9.1959: Am Nachmittag machte ich wieder Lebensbeschreibung von Mutter, was uns beiden immer viel Freude bereitet und mich sehr ablenkte.
11.3.1962: Meine Mutter verfügt über ein ganzes Vokabularium eigenartiger Wörter. Buttercrem zum Beispiel ist ihr zu wehrsam, Rhabarber macht die Zähne stiff. Zuweilen meint sie, so arbeiten zu müssen, daß ihr das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt. Herumliegende Schokolade ist angriepsche Ware, mit dem Kaffee muß sie, wenn die Kinder nicht rechtzeitig kommen, »herumhüten«. […] Eine kleine, zierliche Person, immer gern zu Scherzen aufgelegt, mit Verständnis für Humor, den sie im Verkehr mit meinem Vater wohl auch nötig hatte. Mein Vater nämlich war ein eigenartiger Kauz, der stets Späße machte, schrullige Einfälle hatte und alle Vogelichkeiten, die er an seiner Umgebung wahrnahm, bereitwillig annahm. Alles dies aber war nur ein Panzer für seine bereits im allerfrühesten Alter unheilbar verwundete Seele. […] Um es zusammenzufassen: Humor und Vorliebe für die Groteske umgab mich in reinster Form von frühester Kindheit an. Dazu vom Vater her viel Musik, Feinfühligkeit, scharfer Blick und Neigung zum Heroisch-Gewaltigen. Von der Mutter dagegen etwas Spritzig-Originelles, ein scharfer Blick für alles Absonderliche, Großzügigkeit des Lebensstils. Von beiden Elternteilen eine ausgesprochene Vorliebe für bis ins Sketchhafte ausgeweitetes Geschichtenerzählen, romantisches Gefühl dabei, was gleichwohl selbst absorbiert wurde.
Walter Kempowski, Seite aus der Zettelfassung von Im Block. Ein Haftbericht, Anfang, undatiert. WKA/AdK
Auszug aus dem Nachwort von Dirk Hempel
Walter Kempowskis ausgewählte Aufzeichnungen aus den Jahren 1956 bis 1970 schildern den Weg des gerade entlassenen Häftlings zum erfolgreichen Schriftsteller. 13 Jahre dauerte es bis zur Veröffentlichung seines Haftberichts »Im Block«, 15 Jahre bis zum Erscheinen von »Tadellöser & Wolff«, jenem Roman, der schnell zu Kempowskis Markenzeichen wurde. Seine frühen Tagebücher dokumentieren diese außergewöhnliche Entwicklung jenseits des etablierten Literaturbetriebs, in dem er selbst nach seinen späteren Erfolgen immer ein Außenseiter blieb. Die Aufzeichnungen geben auch Zeugnis vom Beharrungsvermögen ihres Autors, weil er eine unerhörte Geschichte zu erzählen hatte, seine Geschichte.
> siehe auch Walter-Kempowski-Archiv der AdK
Bild 1, Dr. Dirk Hempel und Fritzi Haberland vor der Lesung, Foto AdK, Schirmbeck
BIld 2, Thomas Rosenloecher und Fritzi Haberland lesen, Foto Adk, Schirmbeck