Archivfenster Allein, allein, – die Stille singt. Eva und Erwin Strittmatter
Mit den Nachlässen von Erwin Strittmatter (1912 – 1994) und Eva Strittmatter (1930 – 2011) erwarb die Akademie der Künste mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder zwei herausragende Autorenarchive.
Erwin Strittmatters Werk findet sich von frühester Jugend bis ins Alter vollständig dokumentiert, einschließlich der vielfachen Bewahrung genetischer Stufen der einzelnen Arbeiten: Notizen, Entwürfe, Fassungen in mehrfacher Überarbeitung, inbegriffen zahlreiche Diktaphon-Aufnahmen und Drucklegungen – vom ersten Gedicht und der ersten Erzählung des 12/13jährigen bis hin zu den großen Romanen Ochsenkutscher, Ole Bienkopp, Wundertäter I-III und der Laden-Trilogie. Das lebenslange Ringen um Selbstverständigung und Zeugnislegung spiegelt sich ebenso in umfänglicher Aufbewahrung von Tagebüchern, Arbeitsmaterial, Privat- und Arbeitskorrespondenz, persönlichen und geschäftlichen Unterlagen (darunter bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Materialien der Familiengeschichte) sowie der audiovisuellen Dokumentation zu Leben und Werk. Kenntlich werden Widersprüchlichkeit und Kontinuität der Entwicklung eines Autors, der den poetischen Standpunkt schließlich zum für ihn allein maßgebenden erhob – inmitten des 20. Jahrhunderts und der Lebenszeit über fünf politische Systeme deutscher Geschichte. Transparent wirken Entstehung und Rezeptionsgeschichte des in rund 40 Sprachen übersetzten Werks, dem der Epiker seine Autorität sicherte – in unauflöslich inneren und äußeren Auseinandersetzungen, bedacht mit politischen Ehrungen und Misstrauen, den Schutz konsequent ländlicher Lebensweise suchend, bis zum letztlichen Rückzug aus öffentlichen Funktionen Ende der 1970er Jahre.
In enger Korrespondenz zum Erwin-Strittmatter-Archiv und zugleich eigenständig: das Archiv Eva Strittmatters, der meistveröffentlichten deutschsprachigen Gegenwartslyrikerin. Zu ihm gehören neben persönlichen Unterlagen, Sammlungs- und Erinnerungsstücken sowie der audiovisuellen Dokumentation einer Vielzahl von Lesungen vor allem die Werkmanuskripte ihrer Lyrik und Essayistik, der erzählenden Prosa für Kinder sowie ihre Arbeit als Herausgeberin, insbesondere nachgelassener Werke Erwin Strittmatters. Charakteristisch für diesen Bestand ist die über ein halbes Jahrhundert reichende Korrespondenz mit der Familie, mit Freunden und Bekannten sowie mit tausenden von Lesern. Die mit den Briefen aus Schulzenhof I-III bisher nur zu einem Bruchteil veröffentlichte Korrespondenz belegt die außerordentlich weite wie intime Wirkung des lyrischen Weltbezugs der Autorin, ihrer bis zuletzt offen bekennenden Selbst- und Existenzbefragung.
Berichterstattung Hörfunk/Fernsehen – Erwin und Eva Strittmatter Archivpräsentation 01./02.04.2014:
>>01.04.2014, WDR 3, Resonanzen, Barbara Wiegand (Mitschnitt vorhanden)
http://www.wdr3.de/programm/sendungen/wdr3resonanzen/
>>01.04.2014, RBB Kulturradio, Kultur aktuell, Bernd Dreiocker (Mitschnitt vorhanden)
http://www.kulturradio.de/zum_nachhoeren/kultur-aktuell/kultur_aktuell.html
>>02.04.2014, RBB Fernsehen, RBB Aktuell (Mitschnitt beauftragt) – Wiederholung: RBB Abendschau ab 19:30 Uhr
Fotos der Vitrinenausstellung auf der Brücke im Foyer am Pariser Platz 4 und der Archivpräsentation am 2. April 2014. Referenten: Sigrid Damm, Isabel Pfeiffer-Poensgen, Wolfgang Trautwein. Fotos Hans-Jörg Schirmbeck
Guten Abend meine Damen und Herrn, Leser, Freunde und Bewunderer der Strittmatters.
Besonders begrüße ich die Söhne von Eva und Erwin Strittmatter, Herrn Jakob, Herrn Knut und Herrn Uwe Strittmatter.
Ein Willkommen auch der Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Frau Isabel Pfeiffer-Poensgen, ihren Mitarbeitern und dem Aufbau Verlag.
Ein außerordentliches Archiv stellen wir Ihnen heute vor, ein Doppelarchiv, das Leben und Werk eines großen Epikers und einer ausdrucksstarken Lyrikerin umfassend dokumentiert. Ein Eckstein unseres Archivschwerpunkts „Kunst und Kultur in der DDR“, dem fast ein Drittel unserer 1200 Einzelbestände angehören und der, dem multidisziplinären Ansatz des Archivs gemäß, alle Kunstsparten umfasst. So gibt es die Verbindung zur Darstellenden Kunst, etwa zu Peter Palitzsch beim Stück „Katzgraben“ oder zum Benno Besson-Archiv bei der „Hollaenderbraut“. Und so ist es fast zwangsläufig, dass auch die Mentoren von Erwin Strittmatters literarischen Anfängen bei uns vertreten sind, Bert Brecht natürlich, aber auch die heute seltener genannten Walther Victor, Michael Tschesno-Hell oder Hans Marchwitza. Darüber hinaus die Kollegen aus der Akademie der Künste der DDR, der er seit 1959 angehörte und aus dem Schriftstellerverband, dessen Archiv auch bei uns liegt. Eva und Erwin Strittmatter kommen also in einen ihnen vertrauten Kreis.
Beide gehörten in der DDR - und danach in Ostdeutschland - zu den meistgelesenen Autoren über-haupt; dem West-Publikum wurde der Name Strittmatter insbesondere mit der Verfilmung von „Der Laden“ ein Begriff. Zu unseren bundesrepublikanischen Beständen gibt es wenige, aber konkrete Verbindungen, etwa zu Günter Grass‘ und Wolfdietrich Schnurres Protestbrief gegen den Mauerbau. Aus der Übergabe an Erwin Strittmatter entstand für ihn eine Affäre innerhalb der Staatssicherheit. - Erlauben Sie mir noch den Brückenschlag zu einem anderen unserer großen Westarchive, der Sie vielleicht überraschen mag. Strittmatter ist ja der Protagonist des autobiographischen, familienbezogenen Erzählens in der DDR. In drei seiner vier großen Romankomplexe spiegelt der Autor seine Biografie und sich selbst in Lope Kleinermann im Debutroman „Ochsenkutscher“ von 1950, in Stanislaus Büdner im „Wundertäter“ und zuletzt im „Laden“ auch in Esau Matt. Ähnlich wie Walter Kempowski – die Kulturstiftung der Länder half auch dieses große autobiographische und Familienerzähler-Archiv erwerben - hatte sich Strittmatter seine Bildung selbst erarbeitet und gewann mit seinem lebensnahen, unakademischen Schreiben ein großes begeistertes Lesepublikum - ein Phänomen, mit dem sich die germanistischen Wertrichter beider Seiten nicht recht anfreunden konnten. Einem von Brecht zu Heiner Müller gezogenen Höhenkamm entsprach das Werk Strittmatters eben so wenig wie Kempowski den an der Gruppe 47 orientierten bundesrepublikanischen Kritikern. Beide behaupteten nach 1945 das persönliche biographische Schreiben gegen die Setzungen der Moderne bzw. des sozialistischen Realismus. Beide hinterließen ein höchst umfangreiches Tagebuch-Werk. Und sie ähnelten sich auch in ihrem - aus Archivarssicht - wunderbaren manischen Drang, sämtliche Dokumente des Le-bens und Schreibens aufzubewahren. Schließlich schufen sich beide Schriftstelleranwesen auf dem Land, in denen sich ihre Persönlichkeit auf besondere Weise spiegelte. Wer das Privileg hatte, den Schulzenhof zu betreten, Strittmatters früheres Arbeitszimmer zu sehen oder gar bis zu den Archivbeständen im Keller vorzudringen, weiß wovon ich spreche.
Natürlich schieden sich beider Geister massiv an der DDR. Bei aller inneren Distanz, die Strittmatter seit Mitte der 1960er Jahre zwischen sich und die Kulturpolitik der SED legte, hielt er dem Staat die Treue, dem er – wie er sagte - seine Schriftstellerlaufbahn verdankte. Nach außen blieb er ihm, bis über die Wende hinaus, loyal. Und es gelang ihm schon in seinem großen Roman „Ole Bienkopp“, den Bauch- und Herzenssozialisten Ole vom Typ des erstarrten Parteifunktionärs abzusetzen.
Mit dem Archiv von Eva Strittmatter betreten wir einen ganz anderen literarischen Raum. Verbunden ist er mit Erwin über den ins Naturgeschehen eingebetteten Schulzenhof und natürlich auch über die poetische Bewältigung ihres gemeinsamen, nicht immer einfachen Lebens. Nicht zu vergessen, dass beide wunderbare Kinderbücher schrieben, denken Sie Evas „Brüderchen Vierbein“ oder „Ich schwing mich auf die Schaukel“ und an Erwins „Tinko“ oder „Pony Pedro“. Dadurch, dass Eva Erwins Nachlass herausgab, durchdringen sich beider Archive wechselseitig in einem Doppelarchiv - mit zugleich zwei eigenwertigen Werken.
Strittmatters Lebensentwurf hatte der Frau die dienende Rolle der Zu- und Mitarbeiterin zugewiesen. Sie aber, die studierte Germanistin und Kritikerin, emanzipierte sich in ihrem eigenen Gestaltungsraum der Lyrik. Mit schlichten, metrischen und gereimten Gedichten folgte sie nicht dem Brechtschen Weg der Moderne. Ungeachtet ihrer Überzeugung meiden ihre Gedichte auch alle sozialistischen Themenvorgaben. In eindrücklichen Bildern bringen sie ihr Naturerleben zur Sprache, gestalten Verletzungen, Hoffnungen und Ängste, sprechen über Liebe, Freundschaft, Krankheit und Tod. Dem fulminanten Auftakt des Gedichtbands „Ich mach ein Lied aus Stille“ folgten 9 weitere, deren Manuskripte und Vorarbeiten das literarische Zentrum ihres Archivs bilden. Mit der nahezu unglaublichen Auflagenzahl von über 2 Millionen Bänden ist sie der meistverlegte Lyriker in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zitat: „In vielen Gedichten spreche ich über die nackte, alltägliche, triviale Existenz, schildere sie positiv, (…) in dieser alltäglichen Welt der Notwendigkeit will ich Freiheit zurückgewinnen, einen Schwebezustand des Trotzdem, durch Poesie. (…) Ich beherrsche und verwandle die alltägliche Existenz, indem ich ihr Form auferlege, sie durch Worte zwinge zur Schönheit.“ Hieran lässt sich die große Resonanz ihres Werks nachvollziehen. Doch möchte ich Sigrid Damm nicht vorgreifen, die nachher aus ihrer Autoren- und Freundschafts-Sicht sprechen wird, wofür ich ihr herzlich danke. Dass Eva Strittmatters Gedichte die Herzen der Menschen erreichten, belegt neben der Auflagenzahl auch die außerordentliche Leserinnen- und Leserkorrespondenz im Archiv. In Umfang und Aussagekraft über ihr Publikum ist diese nur noch mit der von Christa Wolf vergleichbar.
Die Eröffnungen über Erwin Strittmatters Dienst als Ordnungspolizist einem SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment, das in schrecklicher Weise in Partisanenbekämpfung und Untaten an der Zivilbevölkerung verwickelt war, hat sein literarisches Werk in den letzten Jahren in den Medien teilweise überdeckt. In der Tat hatte Strittmatter dies in seinen biographischen Auskünften ausgespart. Einen Brief aus der Kriegszeit an die Mutter, an dessen Ende die brutale Wirklichkeit eindringt, zeigen wir in der ersten Vitrine der kleinen Ausstellung draußen auf der Brücke. Alles ist im Archiv getreulich aufbewahrt. Diese ehrliche Archivtradition setzen die Familie und ihr Nachlassverwalter, der jüngste Sohn Jakob fort, wofür wir nicht genug Dank sagen können. Auch wenn – wie in vielen unserer übernommenen Archive - noch nicht alle Dokumente freigegeben sind – ohnehin Muss die Verzeichnung der Nutzung vorangehen -, die Briefe und Unterlagen sind gesichert. Das Bewahren und Erschließen der Quellen als Grundlage, um Kunst und Geschichte zu verstehen, ist Aufgabe und Selbstverständnis des Archivs, nicht das moralische Urteil. Der schnelle Moralist eignet sich nicht zum Archivar. Je tiefer ich in die persönlichen Dokumente unserer Bestände Einblick habe, umso mehr hüte ich mich, erste Steine zu werfen.
Die Erschließung des Gesamtbestands, insgesamt 90 laufende Regalmeter mit etwa 500.000 Blatt, wird unsere Archivarin Dr. Franka Köpp, Jahre kosten bzw. – man Muss das anders sehen - schenken. Franka Köpp verdanken wir die sorgsame Vorbereitung dieser Veranstaltung und auch die Vitrinenpräsentation im „Archivfenster“ auf der Brücke, die einfühlsam und kundig in den Gesamtbestand einführt und noch bis Ende Juni zu sehen sein wird. Dank gilt auch Prof. Dr. Tilo Brandis, der für unsere Erwerbung ein weiteres Mal sachkundig begutachtet hat. Dank dem vormaligen stellvertretenden Archivdirektor Volker Kahl, der die ersten Beziehungen zu Eva Strittmatter knüpfte und sie über lange Jahre hielt, Dank an die Leiterin des Literaturarchivs Sabine Wolf, die die Erwerbung beharrlich weiterverfolgte.
Dem Aufbau-Verlag Dank für das gute Zusammenwirken; dort steht die nächste Publikation an, der 2. Band von Strittmatters Tagebüchern unter dem Titel „Der Zustand meiner Welt“. Unsere Akademiezeitschrift „Sinn und Form“ konnte im März Heft einen Vorabdruck bringen. Nicht vergessen sei auch Constanze Holtz-Baumgart, die im Auftrag von Eva Strittmatter – vor unsrer Zeit - die Registratur geführt und das Archiv geordnet hat. Die weitere Sichtung der Nachlässe und detaillierte Übersichten verdanken wir neben Jakob Strittmatter Cathrin Fehrmann, Sigrun Baron und Henry Thetmeyer. Erwin Berner hat sie unterstützt, insbesondere aber auch den Schmalfilmbestand gesichtet. Besonderer Dank gilt der Kulturstiftung der Länder für die Förderung der Erwerbung. Ihre Generalsekretärin, Frau Isabel Pfeiffer-Poensgen, wird noch zu Ihnen sprechen; ihr Grußwort umrahmen kurze Tonaufzeichnungen mit den Stimmen von Erwin und Eva Strittmatter. Diesen beiden Hauptpersonen des Abends erweisen wir unsere Referenz dadurch, dass sie in Aufzeichnungen selbst zu Wort kommen. So präsentieren wir heute ein breites Archivspektrum, die Autographen in den Vitrinen, Tonmitschnitte, Strittmatters selbst gedrehte Kurzfilme und audiovisuelle Aufzeichnungen von Lesungen in der DDR-Akademie. Deren z. T. schlichter und technisch begrenzter Qualität, die ich zu entschuldigen bitte, hat unser Kollege Uwe Ziegenhagen etwas aufgeholfen. -- Zu allerletzt Dank Ihnen, meine Damen und Herrn für Ihr Kommen und Ihr Interesse.