UTOPIA. Keep on Moving New Forgotten Utopias

Lesungen, Performances, Musik

Spekulieren, fabulieren, Welten bauen – welche Strategien werden von Künstler*innen und Schriftsteller*innen heute genutzt, um den Herausforderungen von Gesellschaften und des Planeten zu begegnen? Sind utopische Konzepte angesichts komplexer Realitäten und repressiver politischer Umgebungen noch möglich? Wer definiert Utopien, ihre Geografien und Geschichten? Die Akademie-Mitglieder und Stipendiat*innen der JUNGEN AKADEMIE lynn t musiol, Nazanin Noori mit Andrea Belfi, Katharina Schultens und Sophie Seita befragen vergessene und neue utopische Narrative, Figuren, Karten und Gesellschaftsentwürfe. In neu entwickelten Performances und Konzerten sowie Lesungen noch unveröffentlichter Roman- und Lyrik-Fragmente reflektieren und erproben die Künstler*innen das Potenzial von Utopien und ihrem Scheitern, von politischer Kunst und Poesie sowie von queeren Zukünften jenseits eines „grausamen Optimismus“ (Lauren Berlant). Mit musikalischen Interventionen von Steloolive.

lynn t musiol – Love Porn!
„You must believe in something“, singt Frank Ocean auf Nostalgia, Ultra, seinem Debütalbum aus dem Jahr 2011. Viele Jahre später fragen wir uns: Verändern sich Glaube und Sinnlichkeit in Krisenzeiten? Wie begehren wir, wenn wir Höllenlandschaften auch außerhalb unserer Screens begegnen? Und wie gehen wir mit ökologischen Intimitäten um, wenn die Natur ihr vertrautes Gesicht zu verlieren beginnt? Diesen Fragen geht lynn t musiol in deren entstehendem utopischen Roman Love Porn! (AT) nach, der sich mit der Verbindung von Klimakrise und Intimitäten in den Jahren nach 2050 beschäftigt. Hierbei wirft dey einen Blick in queere Vergangenheiten, um sich die künftigen Formen gegenwärtigen Lebens denken zu können. Wie auch lynn t musiol’s Theaterarbeit BUCCI x ꒰(・ ‿ ・)꒱, ist der Roman Teil einer Suchbewegung, die Materialitäten, Strukturen und Oberflächen queerer Formen auskundschaftet und im Sinne der Praxis des Denormalisierens neu zusammensetzt.

Sophie Seita – These Devices Became Law
Diese Mittel wurden zum Gesetz ist eine neue Performance- und Textilarbeit von Sophie Seita, die auf zwei historische Utopien reagiert: Thomas Morus’ Utopia und Madeleine de Scudérys Clélie – insbesondere auf die Karten, welche die Visionen der beiden Autor*innen darstellen. Sie beschäftigt sich mit den Fehlern und Verwerfungen dieser Utopien und verknüpft ihr „Fernweh“ mit dem Hier und Jetzt der materiellen Realität. Sie beruft sich zudem auf den Queer-Performance-Theoretiker Jose Muñoz, der Utopie als „nicht präskriptiv; [...] einen Möglichkeitshorizont, ohne festes Schema“, aber auch als „eine Bühne“ definiert. Dabei hinterfragt und imaginiert die Arbeit dekonstruierte Geografien, gewaltvolle Landkarten, zärtliche Landkarten, queere Landkarten, unberechenbare Landkarten, unentzifferbare Landkarten – die Gaze, die die Wunde zudeckt. Die Arbeit ist Teil eines größeren Projekts über queere Performanceformate, das künstlerische Forschung, experimentelles Zeichnen, soziale Praxis und somatische Workshops einsetzt und im Dialog mit Creative Darlington, der Darlington Library, Curious Arts und der Akademie der Künste entwickelt wurde.

Katharina Schultens – Verwünschungen verschiedenster ehemaliger Utopien und provisorische Errichtung einer weiteren, die mit letztem Atemzug ebenfalls zu verwünschen wäre
Die überarbeitete und gekürzte Version eines bisher unveröffentlichten längeren Gedichtprojekts stützt sich zunächst auf ein Schlüsselgedicht Bertolt Brechts aus den späten 1920er Jahren, 700 Intellektuelle beten einen Öltank an, um sich mit der utopischen Idee von Kunst als Medium eines politischen Diskurses oder gesellschaftlicher Veränderung auseinanderzusetzen. Untersucht werden Darstellungen des sogenannten „kritischen Intellektuellen“, wie sie in der deutschen Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre hinein zu beobachten waren. Dieses Konstrukt wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend verzerrt, und dies geschah insbesondere im Kontext gegenwärtiger Social-Media-Diskurse und entgegen der in den 1990er Jahren etablierten Vorstellung eines freien und gleichberechtigten Gespräches im utopischen Raum des Internets, das einst gar als möglicher stabilisierender Faktor für Demokratien galt. Weitere Gedichte setzen aktuelle Versionen dieses Konstrukts und die Toxizität laufender Social-Media-Diskurse in Beziehung zur politisch schillernden Figur der russischen Dichterin Marina Zwetajewa gegenüber, die sich 1941 erhängte, nachdem das Regime unter Stalin ihren Mann zum Tode verurteilt und ihre Tochter inhaftiert hatte. Schließlich wird der Versuch unternommen, einen utopischen Ort des Diskurses zu imaginieren und dabei zu fragen: Wie wäre ein Raum bedingt, der es uns erlaubte, wirklich miteinander zu sprechen? Wie können wir uns jenen entscheidenden Punkten nähern, an denen es weh tut – ohne uns gegenseitig nachhaltig zu verletzen?

Steloolive
Die Klanginterventionen des Künstlers Steloolive basieren auf seinem persönlichen Archiv aus Stimmen, Klängen und Geräuschen aus Accra (Ghana) und der Welt, das neue und vergesse Utopien enthält. Er verbindet elektronische Musik und unkonventionelle Elemente und denkt die Möglichkeiten von Klang neu. Für New Forgotten Utopias verbindet er das Archiv mit Live-Aufnahmen der teilnehmenden Künstler*innen, reagiert auf ihren utopischen Geisteszustand und entwickelt ihn weiter zu einem dynamischen Raum.

Nazanin Noori mit Andrea Belfi – THANK YOU FOR HAVING PENETRATED THE ESSENCE OF THIS WORK SO DEEPLY, WHICH I HOLD MOST DEAR. Eine Umarbeitung von Schostakowitschs Streichquartett Nr. 15.
Der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch lebte unter dem repressiven Regime der Sowjetunion. Ein Großteil seiner Musik wurde verboten, viele seiner Familienmitglieder, Freund*innen und Kolleg*innen wurden inhaftiert und hingerichtet, nachdem er 1936 von Stalin als Volksfeind eingestuft wurde. Die kommunistische Utopie wurde in seiner Musik demaskiert. In seinen Werken brachte er seine Ablehnung und seinen Widerstand gegen Zensur und Kontrolle musikalisch zum Ausdruck, indem er regimefeindliche Botschaften in ihnen versteckte. Die Propagandamusik, die er unter Zwang komponieren musste, schrieb er in einer Weise, die den nationalistischen Geist ad absurdum führte. Als er sich 1938 der Form des Streichquartetts zuwandte, wollte er die hierarchischen Strukturen des Orchesters aufheben und auf eine Art und Weise komponieren, bei der er weniger unter Beobachtung stand und offener arbeiten konnte. Das Streichquartett Nr. 15 ist das letzte des Komponisten. Es wurde 1974, ein Jahr vor seinem Tod, uraufgeführt. Der Schlagzeuger Andrea Belfi und die Modularsynthetistin und Vokalistin Nazanin Noori haben das Stück unter dem Titel THANK YOU FOR HAVING PENETRATED THE ESSENCE OF THIS WORK SO DEEPLY, WHICH I HOLD MOST DEAR. überarbeitet, indem sie die ursprünglichen Themen mit tonalen und atonalen Rhythmen, elektronischen Texturen und vokalen Überlagerungen als Hommage an das Original dekonstruieren und neu interpretieren. Die Performance reflektiert die Möglichkeiten der Kunst als emotionale Dokumentation von Zeiten und Geschichte(n), die fatalen Auswirkungen utopischer Ideen im Kontext autoritärer Regime und die Komplexität des künstlerischen Widerstands.

Samstag, 4.5.2024

19.30 Uhr

Hanseatenweg

Studiofoyer

Mit lynn t musiol, Nazanin Noori mit Andrea Belfi, Katharina Schultens, Sophie Seita and Steloolive

In deutscher und englischer Sprache

€ 7,50/5

Tagesticket
(in Kombination mit Konkrete Utopien)
€ 12/8